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BITV 2.0-Entwurf kommentiert – Teil 5 – Einfache Sprache vs. Leseniveau

1. Juni 2011 von Kerstin Probiesch in: Barrierefreiheit, BITV, WCAG

Teil 5 der Kommentarreihe zum Entwurf der BITV 2 – derzeit im EU-Notifizierungsverfahren – dreht sich um Bedingung 3.1.5 und damit um die zweite Bedingung aus dem Bereich “Verständlichkeit”, die gegenüber den WCAG 2.0 deutlich verändert wurde. Sie soll für zentrale Einstiegs- und Navigationsangebote (Portale) gelten. Nach Entwurf gehört sie zur Priorität II und beginnt mit einem Satz, der schon aus der BITV 1.0 bekannt ist:

“3.1.5 Einfache Sprache: Für alle Inhalte ist die klarste und einfachste Sprache zu verwenden, die angemessen ist (…).”

Seit Erlass der BITV im Jahr 2002 beschäftigt viele Online-Redakteure, Berater und Entscheider,

  • was damit gemeint sein könnte,
  • wie man das zuverlässig umsetzen und
  • zuverlässig testen kann.

Wird der BITV 2.0-Entwurf zur Verordnung, dann werden uns diese Fragen erhalten bleiben. Der zweite Satz der Bedingung lautet:

“Bei schwierigen Texten werden zusätzliche erklärende Inhalte oder grafische oder Audio-Präsentationen zur Verfügung gestellt.”

In den WCAG 2.0 jedoch heißt das Erfolgskriterium:

“3.1.5 Leseniveau: Wenn der Text nach der Entfernung von Eigennamen und Titeln Lesefähigkeiten voraussetzt, die über das Niveau der niedrigen, sekundären Schulbildung hinausgehen, dann gibt es ergänzenden Inhalt oder eine Version, die keine über die niedrige, sekundäre Schulbildung hinausgehenden Lesefähigkeiten verlangt. (Stufe AAA)”

Auch in den WCAG 2.0 kommt “die einfachste und klarste Sprache, die angemessen ist” vor:

Using the clearest and simplest language appropriate is highly desirable, but the WCAG Working Group could not find a way to test whether this had been achieved.”

Leseniveau und Lower Secondary Education Level / Sekundarstufe 1

In den WCAG 2.0 wird von einem internationalen Standard ausgegangen, dem International Standard Classification of Education (ISCED) der UNESCO. Der ISCED wurde für vergleichende Studien über Ländergrenzen hinweg entwickelt. Das klingt nach einer guten Grundlage; es scheint allerdings an vielen Ecken und Enden zu haken – auch beim Mapping auf Deutschland. Dem in den WCAG 2.0 gesetzten Lower Secondary Education Level ist laut normativem Glossar die zwei- oder dreijährige Phase der Bildung vom Ende des 6. bis Ende des 9. Schuljahrs zugeordnet. In Deutschland ist das die Sekundarstufe I – mit einer wahren Schulformenvielfalt:

  • Hauptschul-/Realschulabschluss
  • Realschulabschluss (Gymnasium, Integrierte Gesamtschule, Freie Waldorfschule)
  • Realschulabschluss
  • Haupt-/Realschulabschluss auf Abendschulen
  • Berufsaufbauschulen
  • Berufsvorbereitungsjahr

Dass dies ein Problem ist, zeigt die Begründung zum BITV 2.0-Entwurf:

“Die Festlegung auf ein bestimmtes sprachliches Niveau ist auf Grund des dreigliedrigen Schulsystems und im Hinblick auf unterschiedliche Regelungen auf Landesebene nicht realisierbar.”

Geplant ist außerdem eine Arbeitshilfe:

“(…) Als Arbeitshilfe wird nach Inkrafttreten der Verordnung ein Leitfaden zum verständlichen Schreiben entwickelt und bereitgestellt.”

Techniken werden zu Verordnungstext

In den WCAG 2.0 wird zwischen Erfolgskriterien und Umsetzungstechniken getrennt. Im Entwurf der BITV 2.0 dagegen werden einige der in den WCAG 2.0 genannten Techniken zu einem Verordnungstext:

Bei schwierigen Texten werden zusätzliche erklärende Inhalte oder grafische oder Audio-Präsentationen zur Verfügung gestellt.

Auch die “einfachste und klarste Sprache, die angemessen ist” ist eigentlich eine Technik der WCAG 2.0, zu finden unter den Techniken zur Erfüllung des WCAG 2-0-Kriteriums. Aber: Sie ist als Advisory Technique eingestuft und damit als Technik mit der das Erfolgskriterium (zumindest noch) nicht zu erfüllen ist:

Using the clearest and simplest language appropriate for the content (future link)

Das “noch” wird durch die Ergänzung “future link” ausgedrückt. Entwickelt man also in Zukunft allgemein anerkannte und zuverlässige Umsetzungs- und Testmöglichkeiten, wird sie wohl hochgestuft

Kein Fazit, aber viele Fragen

Dieser Teil des Entwurfs wirft viele Fragen auf. Darunter natürlich solche, die mich seit Jahren begleiten. Was ist “einfachste und klarste Sprache”? Was bedeutet “angemessen”? Geht es um den Leser? Geht es um “dem Thema angemessen”? Geht es um eine Abwägung von Kosten und Nutzen in Sinne von: Ist der Aufwand für den tatsächlichen Nutzen verhältnismäßig oder nicht? Falls die Verhältnismäßigkeit gemeint ist, dann wäre dies gegenüber den WCAG 2.0 wohl schon ein gravierender Rückschritt. Ein so wichtiger Punkt, wie verständliche Inhalte, würde evtl. an der Kostenfrage scheitern. Und: Wenn schon die Formulierung nicht eindeutig ist, wie soll diese Bedingung im Sinne der Nutzer/Leser eindeutig umgesetzt werden – also “möglichst ohne Interpretation” und Deutungshoheiten?

Die Frage ist auch, ob man nicht die Sekundarstufe I weiter hätte eingrenzen können, z.B. das Leseniveau eines 13-, 14- oder 15-jährigen Hauptschülers als Maßstab nehmen können? Gibt es da belastbare Forschungsergebnisse zum Textverständnis?

Wie schon bei Bedingung 3.1.3 und anderen Bedingungen habe ich auch hier Bauchschmerzen. Da ist natürlich das Problem der Harmonisierung der Richtlinien innerhalb der EU. Aber mehr noch: Wenn man nicht zuverlässig weiß, was die klarste und einfachste Sprache ist, die angemessen ist, wie kann man einen Text dann zuverlässig einfacher und klarer machen und/oder entscheiden, wann ergänzende Inhalte notwendig sind? Die Online-Redakteure des Bundes und der nachziehenden Bundesländer stünden vor der Aufgabe etwas umzusetzen, was weltweit aktiven Experten in der Jahre dauernden Entwicklung der WCAG 2.0 nicht gelungen ist (s. Zitat oben). Ist das wirklich realisierbarer als das Ansetzen eines Leseniveaus? Mag sein – mag nicht sein.

Unabhängig davon würden mich Forschungsergebnisse zum Textverständnis im Hauptschulbereich interessieren. Über Links und Hinweise würde ich mich freuen – entweder hier im Kommentarbereich oder als E-Mail.

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