BITV 2.0-Entwurf kommentiert – Teil 4: Ungewöhnlich vs. ungebräuchlich
31. Mai 2011 von Kerstin Probiesch in: Barrierefreiheit, BITV, Web 2.0
Fortsetzung der Kommentarreihe zum Entwurf der BITV 2 – derzeit im EU-Notifizierungsverfahren.
Viele Aspekte der Barrierefreiheit, die für das Verstehen von Inhalten relevant sind, können gut umgesetzt und zuverlässig getestet werden. Dazu gehören Überschriften, Listen und Datentabellen. Der strukturierte Aufbau gibt einem Text aber nur die äußere Form und letztlich geht es um verständliche Inhalte. Die Entwicklung zuverlässig testbarer Erfolgskriterien ist in diesem Bereich besonders schwer und in keinem Bereich der Barrierefreiheit droht so schnell Interpretation und das Problem, dass ein Erfolgskriterium nicht mehr testbar ist.
In zumindest vier Erfolgskriterien der WCAG 2.0 steht die inhaltliche Aufbereitung von Texten im Zentrum:
- 3.1.3 Ungewöhnliche Wörter
- 3.1.4 Abkürzungen
- 3.1.5 Leseniveau und
- 3.1.6 Aussprache
Im BITV 2.0-Entwurf, wie er im Rahmen des EU-Notifizierungsverfahrens ausliegt, wurden daraus folgende Bedingungen:
- 3.1.3 Ungebräuchliche Wörter
- 3.1.4 Abkürzungen
- 3.1.5 Einfache Sprache und
- 3.1.6 Aussprache
Abkürzungen sind hinsichtlich Umsetzbarkeit und Testbarkeit unproblematisch. Ebenso unproblematisch – zumindest in der deutschen Sprache – ist Bedingung 3.1.6. Nur wenige Konstellationen führen wohl dazu, dass “die Bedeutung der Wörter – im Zusammenhang – mehrdeutig ist, wenn man die Aussprache nicht kennt”. In der Regel wird sie sich aus dem inhaltlichen Zusammenhang ergeben.
Anders sieht es jedoch mit 3.1.3 und 3.1.5 aus. In diesem vierten Teil der Kommentarreihe geht es um Bedingung 3.1.3. Sie ist der Priorität II zugeordnet und muss bei “zentralen Navigations- und Einstiegsangebote (sogenannte Portale)” erfüllt sein.
Ungewöhnlich oder ungebräuchlich?
Meint “ungewöhnlich” und “ungebräuchlich” das Gleiche? Wenn ja, dann hätte man doch die Formulierung der offiziellen deutschen Übersetzung der WCAG 2.0 übernehmen können. Wenn nicht, dann haben wir (auch hier) eine Abweichung gegenüber den WCAG 2.0. Im Glossar des BITV 2.0 –Entwurfs werden ungebräuchliche Wörter wie folgt definiert:
“Wörter, bei deren Verwendung es notwendig ist, den Nutzerinnen und Nutzern die Bedeutung zu erläutern, damit diese den Inhalt richtig verstehen.”
“Definiert” wird im Glossar nicht die Verwendung von Wörtern in einem “ungebräuchlichen oder eingeschränkten Sinn”, sondern was ein ungebräuchliches Wort sein soll. Die WCAG 2.0 ist eindeutiger. Dort steht:
“Benutzung auf ungewöhnliche oder eingeschränkte Weise (used in an unusual or restricted way)
Wörter, die so verwendet werden, dass Benutzer genau wissen müssen, welche Definition anzuwenden ist, um den Inhalt korrekt zu verstehen.
Beispiel: Wenn der Begriff „gig“ in einer Diskussion über Musikkonzerte auftaucht, bedeutet er etwas anderes, als wenn er in einem Artikel über Computer-Festplattenplatz auftaucht. Die passende Definition kann aber durch den Inhalt bestimmt werden. Im Gegensatz dazu wird das Wort „Text“ in den WCAG 2.0 auf eine sehr spezielle Art benutzt, so dass eine Definition im Glossar zur Verfügung gestellt wird.”
Bedingung 3.1.3 und Erfolgskriterium 3.1.3
Die Bedingung 3.1.3 des Referentenentwurfs lautet:
“Für Wörter oder Ausdrücke, die in einem ungebräuchlichen oder eingeschränkten Sinn – einschließlich Dialekte und Fachjargon – verwendet werden, gibt es Mechanismen zur Erläuterung.”
Zum Vergleich das Erfolgskriterium der WCAG 2.0:
“Es gibt einen Mechanismus, um spezielle Definitionen von Wörtern oder Wendungen zu erkennen, die auf ungewöhnliche oder eingeschränkte Weise benutzt werden, Idiome und Jargon eingeschlossen.”
Was soll es bedeuten?
Die Sache mit dem “gebräuchlich” wird leider im Entwurf der BITV 2.0 bezüglich Sprache nicht weiter definiert. Man findet “gebräuchliche” Begriffe und Redewendungen im Entwurf noch einmal und zwar in den Vorgaben für Leichte Sprache in Anlage 2 (zu § 3 Absatz 2 und § 4 Absatz 1 BITV 2.0) Teil 2 unter Nr. 4: “Es sind kurze, gebräuchliche Begriffe und Redewendungen zu verwenden” – leider auch hier ohne weitere exakte Definition, die zu einer (besseren) Testbarkeit führen könnte.
In der Begründung – jedoch – zu Bedingung 3.1.2 (Auszeichnung des Sprachwechsels) gibt es dann einen Verweis auf einen “allgemeinen Sprachgebrauch”:
“Für Begriffe, die in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen und insbesondere auch im Duden aufgeführt sind, also zum Beispiel der Computer oder das Web, ist eine Auszeichnung oder Umbenennung nicht erforderlich.”
Zumindest Duden online enthält nicht den allgemeinen Sprachgebrauch, sondern den für die deutsche Sprache bedeutsamen Wortschatz. Das mag für “den” Duden nicht zutreffen, aber man weiß ohnehin nicht, ob er für Bedingung 3.1.3 relevant ist oder nicht.
Wenn man Wörter oder Begriffe behauptet, die in einem gebräuchlichen Sinne verwendet werden, dann setzt man aus meiner Sicht eine Norm (“gebräuchlich”, “Allgemeiner Sprachgebrauch”) und entfernt sich vom real existierenden Leser. Für diesen kann ein Wort ebenso wie die bestimmte Verwendung eines Wortes ungewöhnlich sein. Das kann für veraltete Wörter ebenso zutreffen wie für Redewendungen. Höchst veraltet wäre: “Mir deucht seine Ansicht zum peinlichen Recht ist abständig.”
Nach WCAG 2.0 müsste zumindest die spezifische Definition von “peinlich” und auch von “abständig” erläutert werden. Müsste man diese Wörter nach BITV 2.0-Entwurf auch erläutern oder nicht und wenn ja, auf welcher Basis und welchem Maßstab? “Peinlich” sollte wohl im “Duden –Deutsches Universalwörterbuch” stehe. “Peinliches Recht” und “abständig” findet man zumindest beim Stöbern in der Suche von duden online. Viele werden den Satz nur verstehen, wenn sie die relevanten Definitionen kennen und wohl sagen, dass die Wörter zumindest ungewöhnlich verwendet werden – ist die Verwendung aber deswegen “ungebräuchlich”. Aus dem Bauch heraus würde man das wohl für dieses Beispiel bejahen, aber ist der Bauch ein guter Ratgeber und kann “man” das bei jedem Wort und jeder Phrase zuverlässig entscheiden und damit valide und reliabel testen?
Wie soll mit Redewendungen umgegangen werden?
Die deutsche Wikipedia enthält in der Beschreibung des Lemmas “Redewendung” (ein ungebräuchliches oder nur ein ungewöhnliches Wort für “Stichwort”?) folgendes Beispiel: “Der Ofen ist aus”. Der Ausdruck kann zwei Bedeutungen haben:
- Im Zimmer ist es kalt, weil der Ofen ausgegangen ist.
- Das „Feuer“ (einer Beziehung) ist erloschen: Die Beteiligten wollen nichts mehr miteinander zu tun haben.
Ist diese Redewendung ungebräuchlich? Gehört sie zum “Allgemeinen Sprachgebrauch”? Oder muss man sie nur dann erläutern, wenn sie nicht im Sinne dieser Bedeutungen verwendet wird sondern nicht in einem gebräuchlichen Sinne?
Ohne deutschlandweite Abstimmung von allen Menschen wird man wohl nicht erfahren, ob ein Wort oder Ausdruck gebräuchlich ist oder nicht. Die oben genannte Redewendung kann aber für Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen eine bildhafte Sprache nicht gut verstehen, ungewöhnlich und schwer verständlich sein und genau hier setzt das entsprechende Teildokument zum Verstehen des Erfolgskriteriums 3.1.3 der WCAG 2.0 an.
Nehmen wir an, der duden ist als Maßstab und Testwerkzeug nicht gemeint? Wer soll dann auf welcher Basis entscheiden, ob ein Begriff auf gebräuchliche Weise verwendet wird und/oder ein gebräuchlicher Begriff oder Redewendung ist? Diese Fragen sind keine Wortklauberei oder Wortspalterei. Für die Beratungspraxis und vor allem die Schulung von Online Redakteuren sind solche Fragen durchaus wichtig.
Fazit
Mir bereitet diese aus meiner Sicht doch recht gravierende Änderung gegenüber den WCAG 2.0 Bauchschmerzen. Vollends verwirrend ist für mich, dass der Passus in der englischen Übersetzung des BITV 2.0-Entwurfs, eingereicht zum EU-Notifizierungsverfahren, “unusual words” lautet. Zumindest nach meiner Interpretation der Bedingung müsste dort doch konsequenterweise “uncommon words” stehen. Auch eine Stärkung der Barrierefreiheit für die Menschen, die große Schwierigkeiten beim Verstehen von Texten haben oder sprachlich nicht so “gewandt” sind, sehe ich nicht. Im Gegensatz zu Vorgaben für Gebärdensprachfilme, die sogar Kleidungsvorschriften enthalten, wird ausgerechnet ein Aspekt, der sehr vielen Menschen nutzt der Interpretation und vielleicht sogar Deutungshoheiten überlassen, woraus potenzielle Probleme der Testbarkeit der Bedingung entstehen. Aber vielleicht überzeugt mich jemand vom Gegenteil?!