BITV 2.0-Entwurf kommentiert – Teil 2 – Mehrdeutige Linkziele
17. März 2011 von Kerstin Probiesch in: Barrierefreiheit, BITV
Die Bedingungen 2.4.4 und 2.4.9 der BITV 2.0 betreffen Ziel und Zweck von Links. In der Begründung zum Entwurf der BITV 2.0 befindet sich auf Seite 10 folgende Abweichung von den Vorgaben der Web Content Accessibility Guidelines 2.0 (WCAG 2.0):
“Zu den Bedingungen 2.4.4 und 2.4.9 der Anlage 1
Die WCAG 2.0 lassen bei dieser Bedingung eine Ausnahme zu (wenn Ziel und Zweck eines Links für alle Nutzerinnen und Nutzer unklar wären), die nicht in die Anlage 1 übernommen wurde. Ziel dieser Abweichung ist es, die Bereitstellung von Informationen zu Ziel und Zweck eines Links insbesondere für lern- und geistig behinderte Nutzerinnen und Nutzer sicherzustellen, die keinen Screenreader benutzen.”
Zum Vergleich die Erfolgskriterien der autorisierten deutschen Übersetzung der WCAG 2.0:
“2.4.4 Linkzweck (im Kontext): Der Zweck jedes Links kann durch den Linktext allein oder durch den Linktext zusammen mit seinem durch Software bestimmten Link-Kontext bestimmt werden außer in Fällen, in denen der Zweck des Links mehrdeutig für Benutzer im Allgemeinen wäre. (Stufe A)”
bzw.
“2.4.9 Linkzweck (reiner Link): Es gibt einen Mechanismus, um den Zweck jedes Links durch den Linktext allein zu erkennen, außer der Linkzweck wäre mehrdeutig für Benutzer im Allgemeinen. (Stufe AAA)”
Was sind Linkziele, die für alle mehrdeutig sind?
Für alle Nutzerinnen und Nutzer mehrdeutige Linkziele und –zwecke sind genau das: für alle Nutzer mehrdeutig – also auch für Screenreadernutzer. Um welche Art von Links es sich handelt wird im Glossar der WCAG 2.0 erläutert:
Mehrdeutig für Benutzer im Allgemeinen (ambiguous to users in general)
Der Zweck kann nicht durch den Link und die gesamten Informationen auf der Webseite, die dem Benutzer gleichzeitig mit dem Link gezeigt werden, bestimmt werden (d.h. Leser ohne Behinderungen würden erst bei Aktivierung eines Links wissen, was dieser macht und nicht schon vorher).
Dieser Ausführung folgt ein einfaches Textbeispiel mit Link, das Jan Eric Hellbusch und ich in unserem Buch “Barrierefreiheit verstehen und umsetzen” aufgegriffen haben. Dort geht es um Guaven; wir haben uns für Spargel entschieden –zugegebenermaßen nicht besonders kreativ:
Nehmen wir an in dem Satz »Im April kann frischer Spargel aus heimischer Ernte gekauft werden« ist das Wort »Spargel« verlinkt:
<p>
Im April kann frischer
<a href="http://www.seitenadresse.de/spargel.htm>Spargel</a>
aus heimischer Ernte gekauft werden.
<p>
Der Link könnte zu einer allgemeinen Beschreibung von Spargel oder zu einer Seite mit Absatzzahlen in einer bestimmten Region führen. Sicher sind weitere Linkziele denkbar etwa eine Seite mit Fotos einer Spargelernte oder mit Spargelrezepten. Das Linkziel wäre vorher allen Nutzern unklar – auch Screenreadernutzern, denn der Linktext:
- ist weder aus dem Kontext heraus deutlich (hier Inhalt des Absatzelements)
- noch für sich allein aussagekräftig
- noch mit vor Sehenden versteckten Zusatzinformationen für Screenreadernutzer versehen.
Ein blinder Nutzer hätte also keinen besonderen Vorteil gegenüber einem sehenden Nutzer, sondern quasi den gleichen Nachteil wie alle.
Mich interessiert, welche konkreten Beispiele zur Streichung dieser Ausnahme geführt haben. Möglich wäre ein Fall, der mir jedoch sehr konstruiert vorkommt und im Zusammenhang mit der Formulierung in der Begründung zum Entwurf der BITV 2.0 zudem nicht ganz schlüssig wäre:
Nehmen wir an, ein Link führe zu einem PDF und die Information über den Formatwechsel stünde nur Screenreadernutzern über einen versteckten Text zur Verfügung. In diesem Fall würde diese Nutzergruppe im Unterschied zu allen anderen (sehenden) Nutzern eine Information zum Linkziel erhalten. An sich kann diese Konstellation aber nicht gemeint sein, denn: Ein solcher Link wäre nicht mehr für alle Nutzer mehrdeutig (Screenreadernutzer erhalten ja eine Information) und deswegen kein Beispiel für die in den WCAG 2.0 formulierte Ausnahme.
Einschätzung
In vielen Online-Redaktionen kommen nicht nur eigene Texte, sondern auch Texte anderer Autoren zum Einsatz. Diese können aus urheberrechtlichen Gründen entweder nur nach Rücksprache mit dem Autor oder gar nicht verändert werden. Die Konsequenz einer Streichung der WCAG 2.0-Ausnahme wäre entweder eine Umformulierung betroffener Sätze oder das Setzen des Links / der Links an das Artikelende. Von beiden Maßnahmen würden selbstverständlich alle Nutzer profitieren, denn sie führen zu allgemein eindeutigeren Linktexten. Dies scheint mir jedoch bisher eine Frage der allgemeinen Usability und nicht der Barrierefreiheit zu sein.
Gerade für Online-Redakteure und natürlich für Redakteursworkshops zur BITV 2.0 wäre ein Pool mit konkreten Beispielen, die zur Streichung der Ausnahme führten, vorteilhaft und sollte vom zuständigen Ministerium zur Verfügung gestellt werden. Diese Maßnahme würde die Arbeit von Online-Redakteuren unterstützen und erleichtern. Dies vor allem, da Bedingung 2.4.4 zu den Bedingungen gehört, die zwingend erfüllt werden müssen. Aus meiner Sicht ist zudem eine Änderung im Wortlaut der Begründung nötig, die den meiner Ansicht nach vorhandenen Widerspruch in der Formulierung auflöst.